Die Himmelssäule

Eine Kooperation von Theater Instrumental und U.G.L.E.

Regie: Daniel Wahl
Spiel: Marcelo Miguel

Christoph Bombart Photography

»Was bringt es mir, in der Stadt zu leben, wenn das Glück mich nicht begleitet? Lebewohl schöne Frau meines Herzens. Ich möchte in meine Heimat zurückkehren. Bei Sonnenaufgang werden die Vögel wieder singen, mit großer Freude werde ich auf meinem Pferd reiten und durch die Straßen galoppieren. Dann unter meinem Baum den Tieren lauschen.«

Marcelo erzählt die Geschichte seiner Kindheit. Oder ist es die Geschichte von Ciesco, Marcelos Doppelgänger?

»Ich weiß nicht warum, aber ich liebte es schon als Kind, irgendwelche Geschichten zu erfinden. Das Erfinden von Geschichten war einfach, nur der Ausstieg aus den Lügengeschichten erwies sich oft äußerst kompliziert.«

2015 stirbt Marcelos Vater. Der Himmel fällt ihm buchstäblich auf den Kopf. Nach der Beerdigung setzt er sich im Garten seiner Eltern unter seinen Guavenbaum und erinnert sich, an seine alte Heimat. Brasilien, Sao Paulo, die Favela, die Familie. Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Freunde und andere Weggefährten. Er erinnert sich an Gewalt, Liebe und Momente des Abschieds.

»Ich muss mit meinen Narben spielen. Es macht mir Freude, mit alldem zu spielen. Ich will diese Narben nicht verstecken. Egal, ob sichtbare oder unsichtbare. Diese Narben gehören zu mir.«

Gemeinsam mit Marcelo taucht das Publikum ein in die Welt der gedanklichen und körperlichen Kindheitserinnerungen und erforschen die innere Spur, welche die Kindheit in jedem Menschen hinterlässt.


Trailer


Aufführungen

März 2022, ArTik / Freizeichen, Freiburg

Oktober/November 2019, Tour Brasil (Londrina — Maringá — Botucatu — São Paulo — São José dos Campos — Rio de Janeiro — São João del Rei — Belo Horizonte — Recife — João Pessoa — Vitória de Santo Antão)

Oktober 2019, RambaZamba Theater, Berlin

März 2019, U.G.L.E. Freiburg

Premiere Oktober 2018, Kammertheater E-Werk Freiburg i. Br.



Rezension

von Urs Kaiser

Die Himmelssäule ist eine Verbindung vom Herzen des Menschen dem tiefsten Seinserleben zum Göttlichen Sein da draußen in der Welt. Wenn am Ende des Stückes Marcelo den Rolladen der Garage zuzieht, die seine Vergangenheit bedeutet, seine Kindheit und der Ort tiefgreifender Erfahrungen, dann zeigt sich seine Himmelssäule, denn er hat da die Kraft gefunden das Gewesene zu betrachten und doch seinen Weg zu gehen, der nicht jener ist, den die Lebenswelt in Sao Paulo nahelegt.

Aber schon die Eltern sind diesen Weg nicht unwillkürlich gegangen, sie haben ihr Leben gelebtund sind doch der äußeren Not folgend da hingegangen, wo ein Heilsversprechen war: weg vom Land in die Großstadt.

Marcelo erzählt seine Geschichte über drei Generationen hinweg, zweigt auf, was transgenerational in ihm fortlebt, was die Himmelssäule der Mutter war, die sich zeigt im Jesusbild des elterlichen Wohnzimmers, das gleichzeitig ihn ängstigt und verhindert, dass der kleine Junge elementarste Bedürfnisse befriedigen kann.

Und am Ende wirkst, was bei uns allen Menschen der protektive Faktor schlechthin ist: eine liebevolle Beziehung – hier zur Mutter- und in der Folge ein Raum von Geborgenheit und Exploration in einem Baum, der vor dem Haus steht. Risiken prallen am kleinen Marcelo ab, weil er diesen tiefen Schutz hat, der Selbstwerdung erlaubt und bis hinein in Mißbrauchserfahrungen immer von einer tiefen Selbstwirksamkeitserwartung geprägt ist: es wird gut werden, ich werde es überleben, ich werde daran wachsen.

Die Ausgangsfrage des Stückes bildet aber nicht die Frage nach der Himmelssäule sondern die, ob die eigene Geschichte vorgetragen werden darf- und dies sogar im Theater. Ist meine Geschichte etwas, was Wert an sich hat, archetypisch ist und unterhalten kann. Shakespere leuchtet mit einem Zitat auf, der, wenn er nicht King Lear oder Hamlet war, als der bürgerliche Willi, der er wirklich war unscheinbar lebte. Hier ist gleichsam das Leben des Willi ins Werk gesetzt, das weil es ehrliches Leben ist, eben auch erzählenswert ist.

Wie wird erzählt in diesem Stück? Dadurch, dass sich Rolle und präsentes Selbstdarstellen im wahrsten Sinne ständig durchkreuzen, entsteht ein verwirrendes Erleben mit der Grundfrage nach Rolle oder Sein, nach Fake oder Echt. Aktiv versucht Marcelo diesen Eindruck zu verstärken, in dem er den Betrachter mit einbindet, aktiviert, befragt nach seinem Urteil. Was aber ist echt? Wie unterscheidet sich eine gut gespielte Rolle von authentischer Aufmerksamkeitsfokussierung auf frühere Erlebnisse? Oder ist am Ende beides Echt und entscheidend die Präsenz, der Kontakt zu sich selbst und das Skript Nebensache? Macbeth und Willi ein und dasselbe? Was ist mein Skript als Zuschauer, was entsteht im Moment, was ist einstudiert?

Immer da, wo Marcelo gelingt diese Präsenz (oder den Kontakt zu seiner Himmelssäule) herzustellen, ist das nicht wichtig und nicht herauszufinden.

Entscheidendes Medium ist bei diesem Stück nicht die Sprache oder die Aktion, sondern vor allem die Musik. Sie erklingt trickreich eingesetzt an verschiedenen Stellen, in verschiedenen Formen, mal erinnerung wachrufend aus dem Lautsprecher, mal gesungen im Moment selbst erzeugend Gefühle, die aufgesucht werden. Passiv und aktiv erzeugt sie Gefühl, das wirkmächtig im Leben von Marcelo lebt und ihre Wirkmacht entfaltet für den Zuschauer, der portugisische Dialoge nicht versteht, die Musik aber wohl und mit ihr und durch sie eintauchen kann in die Lebenswelt vor Zeiten auf dem fremden Kontinent.

Die Gitarre, die gleichsam Selbstwirksamkeit und Freude symbolisiert, sie ermöglicht den Ausdruck, um jetzt aber auch damals die Mutter zu erfreuen und verzweifelt gleichsam im Versuch, die Himmelssäule der Mutter wieder aufzurichten nach dem Tod des Sohnesohne dies zu vermögen.

Am Ende steht sie neben Marcelo und IST der kleine Junge, den es gilt an die Hand zu nehmen, zu trösten und zu feiern, der das alles überlebt hat, der den schmutzigen Fluß nicht fürchtet, der Waffen versteckt, den Frisör erleiden muss und im Baum Trost findet, der sein Baum ist.

Beide stehen da: der Schauspieler aus Brasilien mit ergrauenden Schläfen und die Gitarre, die selbst stehen kann und doch nichts ist ohne den „großen“ Spieler.

Hat die Psychotherapeutin recht behalten, die sagt, man müsse lernen das verletze Kind in uns an die Hand zu nehmen? Eine Forschungsfrage, die am Anfang steht und die in diesem Bild ihre Antwort findet ohne moralisierend zu sein oder zu eindeutig.

Mehrdeutigkeit scheint für den Schauspieler ein hoher Wert zu sein, er nenne es Geschichten erzählen wollen und können. Das Dargebotene liefert keine Antworten, es lässt den Betrachter verstört zurück und mit der Frage im Herzen: könnte ich meine Geschichte so erzählen und wie nutze ich meine Freiheit, den Erlebnissen jenen Sinn und jene Bedeutung zu geben, die mir guttut und das innere Kind versöhnt und einbindet?

Wir haben alle unsere Rolle, unsere Rula (Schriftrolle) auf den Rücken geschrieben bekommen, wir spielen ein Skript, das wir nicht lesen können, unsere Mitmenschen auf unserem Rücken aber schon, das aber uns bestimmt. Das aufbrechen von leben, Erleben und Rolle zeichnet dieses Stück aus und es klingen Melodien nach, bestehend aus drei Akkorden, aber auch aus dem Klang des Jazz und am Ende tönt durch den Habitus das eigene Lied, zeugend von der Himmelssäule, die bleibt, wenn der Rollladen heruntergeht.

Oktober 2018